Wie wir alle berufen sind, Blinde zu heilen

Markus 10,46-52

Liebe Schwestern und Brüder,

da predigt nun also ein Blinder über eine Blindenheilung. Auf jeden Fall bin ich froh, dass ich heute nicht vor einer Versammlung des Katholischen Blindenwerks predige. Denn die Bartimäus-Geschichte ist eine jener Erzählungen aus den Evangelien, die in der Blinden-Community heutzutage umstritten sind. Blindenheilung? Heilen? Wieso? Ich bin doch nicht krank, ich muss doch gar nicht geheilt werden! Ich seh‘ halt nix! Das sagen viele Geburtsblinde. Heilen? Ja, schön und gut, eine Wundergeschichte von vor 2000 Jahren, was hat die mit meinem Leben zu tun? fragt sich manch ein kürzlich erst erblindeter Mensch (das sind ja die meisten, im Alter erst erblindet), und schaltet innerlich ab oder hält das Ganze für entweder Vertröstung oder reines Gleichnis.

Ja, so kann man das ‚sehen‘. zu den erstgenannten, der kleinen Minderheit der Geburtsblinden, gehöre ich; die Blindheit ist nicht durch eine Erkrankung im Laufe des Lebens bei mir dazugekommen, sondern ich lebe schon immer mit ihr. „Rabbuni, ich möchte wieder sehen können“, mir selbst ist dieses Herzensanliegen aus eigenem Erleben nicht vertraut. Sehen, das kenne ich nicht, vermisse ich nicht. Dennoch müssten Blindenheilungen aus meiner Sicht gar nicht umstritten sein in der Blinden-Szene, denn es ist ja eine gute Nachricht, dass Jesus sich einem Menschen heilend zuwendet und jeder braucht diese Zuwendung. – Und doch frage ich mich: Ist es überhaupt eine Blindenheilung, die hier erzählt wird?

Aus dem Zusammenhang geht hervor, dass der blinde Bartimäus hier eine Kontrastfigur ist: Die Jünger sind körperlich sehend, haben keine Behinderung. Sie kapieren aber nicht so richtig, was Jesus sagen will mit dem Wort „Nachfolge“, sein Kreuz auf sich nehmen. Bartimäus hingegen ist blind. Heute noch verbindet man gern damit die Wahrnehmung: naja, der sieht das nicht, dem fehlt gewissermaßen der Durchblick oder Überblick. Aber genau dieser Bartimäus sieht anscheinend tiefer, vor der Heilung schon, als Blinder; und dann „folgte er Jesus auf dem Weg“, nachdem er geheilt worden ist. Interessant ist, dass Bartimäus die absolute Hauptperson in dieser Erzählung ist. Jesus kommt gerade so viel vor wie nötig, die Geschichte wird ganz von Bartimäus her geschildert: Er muss rufen, noch lauter schreien, als man ihn zum Schweigen bringen will, er muss zu Jesus hingehen, gerade er, der Blinde, nicht Jesus zu ihm; er muss Jesus laut und deutlich sagen, was er von Ihm will. Und auch die Heilung wird nicht im Einzelnen geschildert, sondern nur festgestellt als Frucht des Vertrauens oder Glaubens des Bartimäus.

Nun ist er geheilt, kann „wieder sehen“. Nehmen wir den griechischen Originaltext zur Hand, steht die Bitte des Bartimäus wörtlich in etwa so da. „Rabuni, ich möchte aufblicken, emporblicken können.“ Das kann einfach ‚wieder sehen‘ heißen, aber auch: Ich möchte mich wieder raus sehen aus meiner derzeitigen, trostlosen Lebenslage. Als er dann Jesus folgt, muss er dann sogar der Realität des Kreuzes ins Auge sehen. Zum echten Sehen gehört auch das.

Schön und gut: Der körperlich Blinde in der Geschichte sieht mehr als die vordergründig normal Sehenden. Aber was heißt das für uns, für heute? Die Kirche bittet in einem ihrer Hochgebete: Lass uns handeln nach dem Wort und Beispiel Christi. Nun sollen wir also: wie Christus auch Blinde heilen? Ja, auf jeden Fall! Nicht nur Blinde, jedenfalls nicht einfach nur wörtlich.

Als ich vor Jahren an einem Bildungszentrum für blinde Menschen in Nürnberg arbeitete, lernte ich eine Frau als Kursteilnehmerin kennen, die erst ein Jahr blind war. Eine fröhliche Frau, mit herzlichem, ansteckendem Lachen. Das heißt: Als ich sie kennenlernte, war sie fröhlich und steckte uns mit ihrem herzlichen Lachen an. Aber noch ein paar Monate zuvor war das nicht so. Sie hatte eine Sehbehinderung und man versprach ihr, durch ein, zwei harmlose Augenoperationen könne sie dann fast normal sehen. Tatsächlich zerstörten dann im Laufe weniger Tage drei Operationen jegliches Sehvermögen. Innerhalb weniger Tage war sie nicht sehbehindert, sondern absolut blind. Sie hatte das Gefühl, buchstäblich für immer und ewig in der Finsternis zu sitzen. Lebenssinn sah sie keinen. Eine blindentechnische Weiterbildung wurde ihr verordnet, Lernen mit dem Computer umzugehen, Blindenschrift erlernen usw. Das tat sie alles widerwillig, aber sie wusste nicht mehr, wofür es sich zu leben lohnt. Eine ganz typische Reaktion. Eine meiner Kolleginnen blieb hartnäckig, wollte und konnte nicht zuschauen, wie sich die kürzlich erblindete Frau zurückzog, abkapselte und wie sie sich völlig gehen ließ. Sie hat ihr immer wieder Beispiele erzählt von blinden Menschen, die voll im Leben stehen, Familie haben, interessanten Berufen nachgehen, und sie sagte immer wieder: Komm, verlier nicht zu viel Zeit – ich glaub dir schon, Blindsein ist nichts Tolles, aber mach was aus deinem Leben! Sie ging der erblindeten Frau sozusagen so lange auf die Nerven, bis die sich sagte: Na gut, dann probier‘ ich‘s halt. Wie gesagt: Längst ist sie aktiv geworden, fröhlich, kann „emporblicken“. Körperlich blind wird sie bleiben, aber sie sieht sich längst nicht mehr eingesperrt ins dunkle Verlies, sondern ist viel unterwegs, arbeitet wieder als Musiklehrerin.

Und sie berät wiederum selbst erblindete Menschen.

Was meine Kollegin gemacht hat, unterscheidet sich von dem, wie Jesus mit Bartimäus umging. Der kam ja von sich aus und wollte sich nicht abfinden mit dem trostlosen Leben, wie es war. Meine Kollegin ging der erblindeten Frau nach; ich möchte nicht sagen: drängte sich auf, aber war doch sehr offensiv. Das ist sicher eine Gratwanderung, wie weit man hier gehen darf.

Trostlose Lebensverhältnisse, wie sie in der Bartimäus-Geschichte beispielhaft geschildert werden oder wie sie die erblindete Frau erlebt hat, gibt es viele um uns herum. Ob Behinderung, Armut, fehlender Sinn im Leben, also so eine Art geistliche Leere und Sehnsucht nach mehr: Jesus ermutigt uns, dass wir uns aufsuchen lassen, offen sind dafür; und dass wir genau das sagen und tun, was die Mitmenschen brauchen.

Blindenheilung? Ja, so verstanden, gibt es viele Gelegenheiten, wie wir einander „wieder sehend machen“ können.

Schauen wir uns um, fangen wir an.

Jetzt.

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